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Zur Erinnerung an Marie Glinzer und die Gründung der ersten Gewerbeschule für Mädchen vor 150 Jahren in Hamburg

Rede von Katharina von Fintel, HIBB, Leiterin des GB Außerschulische Berufsbildung
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie haben an dieser Stelle sicher Herrn Damm erwartet, den stellvertretenden Geschäftsführer des Hamburger Instituts für Berufliche Bildung. Er ist aus wichtigen Gründen verhindert und ich vertrete ihn heute.

Ich freue mich, sehr, dass ich bei Ihnen sein darf, um einen Blick auf die Situation junger Frauen zu werfen, die an der Schwelle in Ausbildung und Beruf stehen.
Das berufliche Schulwesen in Hamburg leistet seit mehr als 150 Jahren einen wichtigen Beitrag dafür, dass junge Menschen durch eine qualifizierte Berufsausbildung zur aktiven Teilhabe am Arbeitsleben und in der Gesellschaft befähigt werden. An den 35 staatlichen beruflichen Schulen in Hamburg
werden rund 53.400 Schülerinnen und Schülern in Ausbildung und Beruf gebracht. 75 Prozent davon direkt in Ausbildung, der Rest wird darauf vorbereitet oder erwirbt einen höheren Bildungsabschluss bzw. absolviert eine Weiterbildung (z.B. Meister, Techniker) etc. Der Frauenanteil in den verschiedenen Bildungsgängen der Ausbildung beträgt 42,2%.

Ich möchte sie nicht mit der Darstellung von Zahlenkolonnen langweilen. Wer sich für den Hamburger Ausbildungsmarkt interessiert, den möchte ich gern auf den jährlichen Hamburger Ausbildungsreport verweisen. Es lohnt sich sehr, diesen einmal anzusehen.
Ich möchte auch nicht die Klage wiederholen, dass sich Mädchen trotz einer sehr guten Ausbildungsplatzlage immer noch viel stärker als Jungen auf sehr wenige Ausbildungsberufe konzentrieren und dass ausgerechnet die von Mädchen bevorzugten Berufe oft nur eingeschränkte Aufstiegschancen bieten.
Dieses Klagelied hören wir ständig und jedes Jahr. Wenn die neuen Ausbildungsstatistiken kommen, wundern sich Fachexperten, warum junge Frauen immer noch nicht das ganze Spektrum von ca. 350 Ausbildungsberufen im Blick haben und immer noch nicht in die Metall- und Elektroberufe oder in die Informatik gehen, obwohl dort oft die besseren Chancen liegen.
Ich möchte lieber die Gelegenheit nutzen, der Frage nachzugehen, warum das so ist und in welche Richtung wir gehen können, um das zu verbessern.
Mit Ihrer Veranstaltung schlagen Sie einen Bogen von den Anfängen der beruflichen Bildung für Mädchen vor 150 Jahren bis in die Gegenwart. Das ist wichtig.
Sich die Geschichte der Bildungsangebote für Mädchen und Frauen zu vergegenwärtigen ist wichtig, weil viele Unterschiede in den beruflichen Werdegängen der Mädchen und Frauen heute auch in den Erfahrungen ihrer Mütter, Großmutter und Urgroßmüttern wurzeln.
Durften die Mütter und Großmütter eine Ausbildung machen?
Durften sie überhaupt arbeiten? Oder hatten die Eltern oder die Ehemänner anders entschieden?
Durften oder mussten sie einer bezahlten Erwerbsarbeit nachgehen?

Die an Töchter weitergegebenen Familienerzählungen transportieren Erfahrungen und Rollenbilder.
Sie transportieren, was für Frauen normal ist und erreichbar erscheint.
Aber auch, was schwierig ist oder woran Frauen scheitern.

Wenn es gut geht, zeigen diese Familien-Narrative Wege auf, wie es klappen kann, Rollenerwartungen zu durchbrechen, selbstbestimmt ins eigene Leben zu starten, eine Familie zu gründen und gleichzeitig einen Beruf auszuüben.

Tradierte Erfahrungen der Einschränkung und des Scheiterns können dagegen echte Bremsklötze sein und auch in der nächsten Generation wie innere Verbote wirken.
Sie können aber auch bei Müttern und Töchtern einen inneren Widerstand wecken und ungeahnte positive Kräfte mobilisieren.
Das alles wissen wir eigentlich.
Manchmal habe ich den Eindruck, als würden viele glauben, diese Zeiten seien vorbei.
Ich meine: Das ist mitnichten so.
Wie sehr familiäre Machtgefüge und Rollenerwartungen in Frage gestellt werden und ins Wanken geraten können, wenn Mädchen oder Jungen als erste in der Familie das Abitur anstreben, können wir noch heute sehen. Die Erfahrungen neu zugewanderter Jugendlicher sind heute in dieser Hinsicht manchmal denen sehr ähnlich, die wir aus der Zeit der Bildungsexpansion von Willi Brandt in den 70er Jahren kennen. Besonders, wenn Mädchen die ersten sind, die ein Abitur anstreben.

Warum erzähle ich Ihnen das dann?
Die aktuelle Forschung bestätigt, dass Eltern nach wie vor den größten Einfluss auf die Berufswahl ihrer Kinder haben. Ein Problem dabei ist, dass Eltern nur schmale Ausschnitte der Arbeits- und Berufswelt kennen und deshalb ihre Kinder eigentlich nicht ausreichend begleiten können.
Die Arbeits- und Berufswelt ändert sich in einem rasanten Tempo und damit auch die Welt der Ausbildung.
Welche Ausbildungsberufe gibt es heute?
Welche Ausbildung gibt es morgen noch und welche Chancen bietet sie?
Wo kann ich einen Einblick gewinnen, eigene Erfahrungen sammeln, reflektieren und verstehen, was für mich interessant ist?
Diese letzte Frage ist von besonderer Bedeutung, denn wir wissen, dass neben den Eltern und anderen für die Jugendlichen wichtigen Bezugspersonen die eigene Praxiserfahrung der zweitwichtigste Faktor bei der Berufswahl ist. Meist sind es Betriebspraktika, die von den Schulen aus begleitet werden.
Über Praxiserfahrung und Reflektion dieser Erfahrungen kann sich ein junger Mensch beruflich orientieren.
Die eigenen Erfahrungen und die Empfehlungen und Einschätzungen der Menschen, denen sich die Jugendlichen anvertrauen, bilden ganz wesentlich die Grundlage für die individuelle Entscheidung, welche Ausbildung sich ein junger Mensch zutraut und was sie oder er anstrebt.
Mädchen wissen aus den Lebensgeschichten der Frauen ihrer Familie, wie wichtig es ist, an dieser Weichenstellung möglichst keine groben Fehler zu machen.
In den Hamburger Schulen aller Schulformen ist die Berufsorientierung inzwischen fester Bestandteil und natürlich steht da immer die Frage: Was müssen wir tun und bedenken, wenn wir für Mädchen den Übergang in Ausbildung und Beruf individuell gut gestalten wollen und gleichzeitig daran arbeiten, männlich dominierte Berufsfelder für Mädchen zu öffnen.
Viele von Ihnen haben Töchter, Nichten oder Enkelinnen. Vielleicht haben auch Sie das beobachtet, was ich an meinen Töchtern gesehen habe.
Sie haben nicht nur an den Beruf und die Einkommenserwartungen gedacht, sondern ihre gesamte Lebensplanung einbezogen.
Sie wollen nicht nur einen Berufsabschluss erreichen, sondern beim Absprung in Ausbildung genau wissen, wo sie landen werden und ob das dann ein in ihren Augen gutes Leben sein kann.

Die meisten Mädchen und jungen Frauen wollen irgendwann Kinder und Familie und sie wissen, im Zweifel müssen sie weitgehend selbst in der Lage sein, ihre Kinder zu ernähren.
Ein Viertel aller Familienhaushalte in Hamburg sind Alleinerziehenden-Haushalte. In so gut wie jeder Familie gibt es diese Erfahrung.
Die Mädchen kennen die Möglichkeit, über Teilzeitarbeit Familie und Beruf zu verbinden. Aber viele kennen von ihren Müttern inzwischen auch das Thema "Rente" und drohende Altersarmut und sie wissen, dass in Teilzeit Karriere kaum möglich und die Rückkehr in Vollzeit oft ein Problem ist.

Der drohende soziale Abstieg und mindestens relative Armut, das sind Themen, mit denen sich Mädchen befassen und befassen müssen. Auch das spielt für viele bei ihrer Berufswahl eine Rolle.
Was aber lernen Mädchen, in deren Familien die Mütter und Großmütter keine formelle Ausbildung haben und die zwar viel gearbeitet, aber kaum eigenes Einkommen erzielt haben? Was trauen sich diese Mädchen zu? Was halten sie für notwendig?
Wir wissen aus den Arbeitsmarktstatistiken, dass die Erwerbsbeteiligungsquote von Müttern mit mittlerem oder hohem Bildungsabschluss bei über 70 bis 76 Prozent liegt. Ohne oder mit geringen Abschlüssen liegt sie bei nur rund 35 Prozent.
Wie sehr prägt sich die Erfahrung in der nächsten Generation ein, dass sich die Doppelbelastung gar nicht lohnt, wenn das erreichbare Einkommen unter Teilzeitbedingungen so gering ist, dass soziale Sicherheit und Aufstiegsmobilität eine Illusion bleibt?
Umso wichtiger ist es, gerade diese Mädchen in Ausbildung zu bringen und darüber die Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben zu erhöhen. Daran arbeiten wir gemeinsam im HIBB und in der Jugendberufsagentur mit allen Partnern der Wirtschaft.
Schule und Berufsorientierung schaffen das aber nicht allein.
Die Mädchen müssen auch die Erfahrung machen, dass es gelingen kann. Sie brauchen Beispiele aus ihrem Umfeld, in denen es klappt.

Auch deswegen war es so wichtig, dass alle Stadtteilschulen eine Oberstufe haben und die beruflichen Bildungsgänge systematisch so weiterentwickelt wurden, dass sie alle nach oben durchlässig sind.
Mädchen erreichen in Deutschland seit Jahren im Durchschnitt die besseren Schulabschlüsse. Sie sind auf ihrem Bildungsweg schneller, bleiben weniger sitzen und sie haben die besseren Hochschulabschlüsse.

Warum landen dann Mädchen und junge Frauen nicht in den gut bezahlten, männerdominierten Jobs?
Warum gehen sie lieber in schulische Berufsausbildungsgänge im Gesundheits-, Erziehungs- und Sozialbereich, als in die duale Ausbildung?
Was hindert sie daran, Karriere zu machen?

Dort, wo die Zugänge in den Beruf durch Bestenauslese gesteuert werden, wie beispielsweise beim Zugang in den Staatsdienst, da kann man sehen, dass sich die Situation langsam dreht oder schon gedreht hat. Unter den Bewerbern, die den Sprung in das Auswahlverfahren schaffen, finden sich immer mehr Frauen und immer seltener Männer.
In anderen Bereichen ist es aber nicht so und das muss Gründe haben.
Wer Mädchen in dualer Ausbildung haben möchte, muss im Blick haben, dass sie in ihre Überlegungen und Entscheidungen offenbar mehr und andere Faktoren einbeziehen als Jungen. Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und stabile Einkommenserwartungen spielen dabei sicher eine Rolle.
Hier steht aus meiner Sicht noch eine Menge Forschung an, damit Betriebe konkretere Anhaltspunkte bekommen können, was sie tun können, um für Mädchen in der dualen Ausbildung attraktiver zu sein.
Was ist nun zu tun?

  • Wir wissen, dass es keinen Sinn hat, Jungen und Mädchen zu einer Ausbildung zu überreden, weil wir glauben, dass männer- oder frauendominierte Berufe auf diesem Weg geöffnet werden können, denn sobald sich Jugendliche aus dem Einflussbereich der Menschen befreien, die sie überredet haben, korrigieren sie sehr häufig die Entscheidung und brechen ab. Aber, was dann?
  • Vielversprechend ist es, Jugendlichen über Betriebspraktika auch ungewöhnliche Erfahrungsräume zu eröffnen und sie dabei gut zu begleiten.
  • Das weitet die Vorstellungswelt der Jugendlichen und gibt Mut, sich etwas zuzutrauen, was vorher nicht denkbar war. Auch den Mut, eine Erwartung der Familie oder Peergroup zu hinterfragen und eine eigene Entscheidung zu treffen.
Und was können Sie, sehr geehrte Damen und Herren, tun? Wenn ich mir etwas wünschen dürfte, dann wäre es dies:
  • Setzen Sie sich in Ihren Firmen und Betrieben dafür ein, Betriebspraktika anzubieten.
  • Begleiten Sie die Jugendlichen dabei gut, vielleicht entsteht daraus sogar ein Ausbildungsverhältnis. Das ist gar nicht so selten.
  • Begleiten Sie Ihre eigenen Töchter, Nichten und Enkelinnen. Helfen sie ihnen, praktische Erfahrungen zu sammeln und zu reflektieren.
  • Und denken Sie daran, wie schwer es Erwachsenen fallen kann, sich beruflich neu zu orientieren. Jugendliche müssen viel mehr leisten, sie müssen nebenbei auch noch erwachsen werden.
Ich wünsche Ihnen noch viel Freude mit dieser Veranstaltung und bedanke mich, dass Sie mir ihr Ohr geliehen haben.